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Electrophotograpy-Skizze zur Einreichung eines Patents von Charles F. Carlson, 1939, im United States Patent Office angenommen 1942 (Nr. US2297691 A). Quelle: www.google.com/patents/US2297691

Debattenbeitrag

Mikromonetarisierung und freie Wissenschaft?

Teil 2 – Die Wissenspolitik der VG Wort und ihre Ursachen

15.11.2016

Seitdem wir im ersten Teil des Artikels die bevorstehende Umsetzung eines neuen Meldesystems für die Nutzung wissenschaftlicher Texte im universitären Intranet kritisierten, hat sich der Protest gegen den Rahmenvertrag von Kultusministerkonferenz und Verwertungsgesellschaft Wort intensiviert (Börsenblatt vom 8.11.2016). Die Intensität des Protests, die den Geschäftsführer der VG Wort, Rainer Just, zur Verwunderung brachte, vermag wiederum angesichts der Struktur und Geschichte von Urheberrechts- bzw. Copyright-Kontroversen nicht zu überraschen. Wie lässt sich also der aktuelle Versuch der VG Wort, digitale Lehrlektüre kleinteilig zu registrieren und identifizieren, erklären und einordnen?

Aus rechtspolitischer Sicht muss man zunächst festhalten, dass die in Körben vorgenommenen Aktualisierungen des deutschen Urheberrechts nicht mit dem rasanten Tempo der Emergenz digitaler Öffentlichkeiten und Teilöffentlichkeiten Schritt halten konnten. Auch progressive Stellungnahmen und Rekonzeptionalisierungen, wie sie in der Enquête-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ über politische Lager hinweg befürwortet worden sind, harren weiterhin einer Umsetzung, insbesondere die Handlungsempfehlungen ab S. 78). Tatsächlich sind die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Akteure kaum durch stillstellende politische Worthülsen vom „fairen Interessenausgleich“ in Übereinkunft zu bringen. Konzilianz im Ton ist dabei nichts Ungewöhnliches, sie findet sich gleich neben polemischen Argumentationen. Alternative Konzepte wie die mittlerweile fast vergessene – und unglücklich benannte – Kulturflatrate werden so im Stellungskampf der parlamentarischen Anhörungen und anderer gegenseitiger Wortwechsel  aufgerieben. Die Beharrungskraft der bestehenden Institutionen zur Rechteverwertung, aber auch der wirtschaftlich involvierten Intermediäre, ist offensichtlich enorm. Immaterielle Güter werden in kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen – und erst recht in Wissensgesellschaften – zu einer zentralen Ressource. Ihre Verteilung kann gar nicht anders denn strittig verhandelt werden.

Dies ist kein Phänomen der jüngeren digitalen Rechts- und Mediengeschichte. Bereits für frühere Medienumbrüche und -konkurrenzen wie etwa die wechselseitige Transformation von Schallplattenaufnahme und Radiosendung oder die Praktiken des Fotokopierens lässt sich die ungleiche Kräfteverteilung im Spiel zwischen Verlagen, politischen Akteuren und Kreativen nachvollziehen. So hat die Historikerin Monika Dommann in ihrem vorzüglichen Buch Autoren und Apparate. Die Geschichte des Copyrights im Medienwandel (Frankfurt am Main 2014) unter anderem gezeigt, wie es Musikverlegern transnational immer wieder gelungen ist, in der rechtspolitischen Aushandlung stellvertretend für die von ihnen verlegten Musiker aufzutreten. Diese professionalisierte Interessenvermittlung ist jahrzehntelang durch eine multiple Delegation von Verwaltungs- und Repräsentationsaufgaben etabliert worden, die als solche teils von den Künstlern und Künstlerinnen gewollt war oder doch zumindest in Kauf genommen wurde. Auf der entsprechenden Arbeitsteilung beruht noch die heutige korporative Verfassung der deutschen Verwertungsgesellschaften. Im Falle der von Dommann verfolgten Entstehung der jeweiligen nationalen Agenturbildungen (SACEM in Frankreich, Performing Rights Society/PRS in England, GEMA in Deutschland usw.) wird zudem deren historische Aufgabe besonders klar: Unter massenmedialen Bedingungen, bei Annahme eines allgemeinen Publikums mit unbekannter Zahl und sozialer Struktur, analysierten Verwertungsgesellschaften wie die englische Performing Rights Society Radioprogramme zur Ermittlung der für die Schallplattennutzung erforderlichen Tantiemen. Den Verwertungsagenturen kam die Rolle einer bürokratischen Rückseite massenmedialer Vermittlung zu, die gewissermaßen die statistischen und abrechnungsrelevanten Daten produzierte, die in einer Sender-Empfänger-Konstellation nicht als gegeben vorausgesetzt werden konnten. Auf dieser Rückseite der Massenmedien wurde bürokratisch-rechentechnisch aufgerüstet. So nutzte z.B. die PRS in den 1930er Jahren aktuelle Lochkartenmaschinen zur Datenverarbeitung. Vor diesem Hintergrund wird einsichtig, welche Kräfteverhältnisse die Entscheidung des BGH, die Ausschüttung an Verlage durch die VG Wort sei rechtswidrig, verschoben hat. Die resultierenden Aushandlung einer mediengeschichtlich neuen Urheberrechtssituation werden auch in den Debatten um die Verwendung von Texten an Universitäten fortgeführt, etwa wenn Christian Sprang als Vertreter des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in einer Diskussionsrunde im Deutschlandradio als Verlagsvertreter auftritt und zugleich behauptet, AutorInneninteressen zu vertreten, obwohl Verlage nach derzeitiger Rechtslage keinerlei Ansprüche auf Gelder aus den Hochschulzahlungen haben.

Boten unter analogen, massenmedialen Bedingungen die Verwertungsgesellschaften durchaus aufwendige administrative Lösungen für die Interessenvertretung der UrheberInnen, sind für die meisten digital vernetzten Medien entsprechende Registrierungs- und Identifizierungstechniken elementar – ohne, dass sie für eine Mikromonetarisierung genützt werden müssten. Der jüngste Wunsch von Lehrbuchverlegern und VG Wort, basierend auf einer engen Rasterung Nutzung abrechenbar zu machen, wirkt so wie eine verspätete Antizipation von Techniken, die im Bereich großer Plattformen wie YouTube längst automatisiert ablaufen. (Man denke etwa an die algorithmische Prüfung von Urheberrechtsverstößen durch ContentID.) Sie gibt auch eine große Errungenschaft der massenmedial orientierten Rechtssetzung auf, die davon ausging, dass die Menge privater Kopierpraktiken nur pauschalisiert ab- und anrechnungsfähig gemacht werden konnte. Niemand käme auf die Idee, die in Copyshops vervielfältigten Texte einzeln zu registrieren.

So wie mit der – nach Web-Maßstäben ebenfalls spät entwickelten – Technik der Zählpixel die Aufrufzahlen journalistischer Online-Texte registrierbar gemacht wurden, soll nunmehr der nicht-öffentliche Bereich der wissenschaftlichen Textnutzung in Lehre und Forschung registriert werden. Der unterschiedliche Charakter der entsprechenden Nutzungspraktiken liegt klar auf der Hand: Auch in fragmentierten digitalen Öffentlichkeiten soll journalistische Vermittlung honorierbar bleiben, während Wissenschaft weiterhin primär auf einer Reputationsökonomie – und nicht auf einer Tantiemenökonomie – beruht. Oder, wie Monika Dommann über die US-Kontroverse um eine ältere Kopiertechnik schreibt: „Wissenschaftler betrachteten Fotokopien ganz klar als Diffusionsmedium. Sie hatten kaum Kenntnisse über das Copyright und maßen ihm auch keine Bedeutung zu.“ (Autoren und Apparate, S. 249) Der strikt nicht-öffentliche Bereich der digitalen Textzirkulation für die universitäre Lehre ist von einer auf Zitation beruhenden Reputationsökonomie in der Forschung noch einmal zu differenzieren. Das Zählpixel der Wissenschaft bleibt die Referenz auf einen lesenswerten Text. Es gilt, diesen Freiraum der suchenden Lektüre und akademischen Vermittlung für die Studierenden zu bewahren.

Wenn, nach einer klugen Einsicht Bruno Latours, die obsessive Anstrengung des Rechts darin besteht, menschliche Äußerungen zuweisbar, d.h. zurechenbar und nachverfolgbar zu machen (Die Rechtsfabrik. Eine Ethnographie des Conseil d’État, Konstanz 2016, S. 317), bekommt die einzelne Verrechnung von bereitgestellten Texten einen ambivalenten Charakter.  Denn der Versuch, diese Rechtsfunktion in digitaler Form zu etablieren, kennzeichnet und durchdringt bereits unseren vorratsdatengespeicherten Alltag. Möchten wir in einer Demokratie leben, in der die Lektüren aller Studentinnen und Studenten in einer Datenbank verzeichnet werden? Um die Gedankenfreiheit stand es auch schon einmal besser. Vorerst heißt es hinsichtlich der wissenschaftlichen Textproduktion und -nutzung: Wir möchten so nicht verwaltet werden!

Aktuell hat die Mehrzahl der Universitäten bereits angekündigt, dem Rahmenvertrag nicht beizutreten, und der Rest wird sich dieser Tendenz wohl nicht entziehen. In dieser Situation ist bereits ersichtlich, dass die VG Wort sich ins Abseits manövriert hat. Die Pauschalzahlungen bleiben aus und vorerst werden mangels einer akzeptablen, Kosten und Nutzen in ein erträgliches Maß bringenden Lösung zur Einzelmeldungen gar keine Gelder an UrheberInnen fließen. Dies könnte auch zukünftig so bleiben, wenn man die folgenden drei Szenarien in Betracht zieht:

  1. Es werden keine Texte im Intranet mehr zur Verfügung gestellt; stattdessen entwickelt sich analog zu den bekannten Piraterie-Plattformen ein illegales System zur Weitergabe von Texten etwa per Email oder in Cloud-Diensten, die nicht der Kontrolle von Hochschulen unterliegen.
  2. Die Wissenschaftsinstitutionen einigen sich darauf, konsequent und flächendeckend jenseits von Verlagen Open Educational Resources zur Verfügung zu stellen.
  3. Durch eine politische Lösung in Form einer Wissenschaftsschranke werden mittels gesetzlich verordnetem Open Access Verwertungsgesellschaften für die Wissenschaft, aber auch viele kleine Verlage überflüssig.

In jedem Fall kann die gegenwärtige Debatte als Element einer langfristigen Aushandlung des Urheberrechts unter digitalen Bedingungen verstanden werden. Mit Maßnahmen einer Mikromonetarisierung von Wissen auf digitalen Trägern wird versucht, eben diese Qualität abzuschöpfen. Deshalb stehen diese Bestrebungen konträr zur Bedeutung von Wissenschaft und missverstehen ebenso die Potenziale der Digitalisierung. Inmitten einer Urheberrechtskontroverse muss man an die Ideale von Enzyklopädismus und Universität erinnern: Ähnlich wie digitale Daten verbraucht sich wissenschaftliche Erkenntnis nicht, wenn sie weitergegeben wird. Darin liegt der große Gewinn, den die Wissenschaft aus der Digitalisierung zieht – sie verfügt seit einigen Jahrzehnten über Medien, die eine Verteilung von Wissen erlauben, ohne sich abzunutzen (sieht man von Infrastrukturen und Hardware ab). Digitale Daten und Erkenntnisse verlieren nicht an Wert, wenn sie durch viele Hände gehen. Zumindest die Erkenntnisse gewinnen an Tiefe. Umso wichtiger ist es daher, eine Rechtsform zu finden, die diesem Status von Wissen gerecht wird.

Bevorzugte Zitationsweise

Gießmann, Sebastian; Sprenger, Florian: Mikromonetarisierung und freie Wissenschaft?. Teil 2 – Die Wissenspolitik der VG Wort und ihre Ursachen. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Debattenbeitrag, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/debattenbeitrag/mikromonetarisierung-und-freie-wissenschaft-teil-2.

Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 DE.

In Debatte:

Urheberrecht – Copyright - VG Wort